Liebe Sängerinnen und Sänger der Marienkantorei!

 

Vor einiger Zeit fragte mich Marie-Louise, ob ich nicht mal zu einer Chorprobe kommen könnte. Sie rannte damit bei mir offene Türen ein, denn ich bin natürlich wahnsinnig neugierig, wie meine Musik von euch gesungen klingt. Außerdem würde ich sehr gern mit euch darüber reden; für mich als Komponist ist ja jedes neue Stück ein Wagnis - einiges bewährt sich, anderes weniger, vielleicht muss manches auch geändert werden. Und mir ist immer auch bewusst, dass es niemals die Komponisten sind, die ein Stück zur Aufführung bringen, sondern immer die Interpreten. Und je mehr diese über die Musik wissen, desto überzeugender wird eine Aufführung gelingen, denke ich.

 

Nun ist es mir aber leider derzeit absolut nicht möglich, Dienstag abends nach Berlin zu kommen, da ich an diesem Wochentag mit meinen zwei Kindern allein bin. Leider!!! Deshalb habe ich beschlossen, euch einen Brief zu schreiben und wenigstens etwas über meine Musik mitzuteilen. 

 

Als ich vor fünf Monaten mit der Komposition begann, hatten eine Reihe anderer Autoren schon viele Monate mit der Arbeit an Idee, Konzept, Libretto usw. verbracht. Und jedem sind wieder andere Dinge wichtig, was ja völlig normal ist. Für mich war und ist es daher nicht immer leicht, einen einzigen klaren „roten Faden“ zu erkennen; vielleicht gibt es diesen einen Faden auch nicht, es ist ja eine Collage. Ich möchte euch schreiben, wie ich  das Stück sehe, weil die musikalische Ausformung dieser Sicht folgt.

 

Ich stelle mir vor: Pfarrer Krauß als reifer Mann, vielleicht 60 Jahre alt, kehrt heute, im Jahre 2016, 500 Jahre nach seiner Lebenszeit, zu einem fiktiven Besuch in die Marienkirche zurück. Er erkennt die Kirche wieder, erinnert sich an Erlebnisse, die mit bestimmten Lichtreflexen auf der Wand zu tun haben, bewundert die schöne Ausmalung, die Sauberkeit „die wir damals nicht hatten“, usw.

 

Und er hält uns, seinen Zuschauern aus unsere Zeit, eine Lebensbeichte, berichtet von seiner Jugend, den Erschütterungen seiner Zeit, seiner Begegnung mit Luther, den Ideen, die zur Reformation führten, seinen Irrwegen in den Kriegen danach bis zum nun wohl bald bevorstehenden Ende seines Lebens. Und er gibt uns Fragen mit auf den Weg, aber auch die Bitte, seinem Beispiel folgend allen Widrigkeiten zum Trotz an Glauben, Hoffnung und Liebe festzuhalten, an der Idee, dass Menschen das Gemeinsame finden können und nicht am Trennenden haften bleiben.

 

Diese Dramaturgie habe ich in zehn Musikteilen entwickelt.

 

Im ersten Teil  erleben wir Krauß als jungen Menschen, der inmitten einer aus den Fugen geratenen Welt nach dem Sinn seiner Existenz sucht. Die Welt scheint ohne Sinn, bestimmt nur von Macht und Geld und starken Männern, die miteinander um noch mehr Macht und Geld ringen; ohne Egoismus scheint keine Selbstverwirklichung möglich; hinzu kommt noch die Pest, der Tod, die Flucht davor und das Gefühl der Flüchtigen, nirgendwo willkommen zu sein. „Ich würde durch tiefste Meere schwimmen, wenn dort die Wahrheit wohnte“ singt Krauß, „würde“, denn das Grundgefühl ist eine existenzielle Ratlosigkeit: „Wie soll das alles bloß weitergehen?“

 

Im zweiten Teil tritt Krauß zurück; er erzählt uns, wie es in seiner Zeit, um 1500, aussah: die verarmten Bauern voller Zorn über die Maßlosigkeit der Mächtigen, angeheizt durch Demagogen; die Angst der Menschen vor Verdammnis für ihre schlechten Taten durch einen Rachegott, also ohne Perspektive für ein Leben im Paradies wenigstens nach dem Tod - es sei denn, man zahlt Ablass - kulminierend im „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“.

 

Im dritten Teil hingegen heißt es: „Alles verändert sich“. Was hat sich verändert? Krauß, nur noch einäugig, das zweite hatte ihm die Pest genommen, erreicht Wittenberg. Er trifft dort auf Luther. Luther, der gerade in der Bibel entdeckt hat, dass es einen gnädigen Gott gibt. Einen Gott, dessen Wort ohne Umwege ganz direkt ins Herz des Gläubigen zielt. „Dein Mund auf meinem Mund“. Näher kann das Wort Gottes nicht kommen. „Dein Wort, ein Kuss, so nah“. Das Wort kommt nicht nur direkt zu dir, ohne Umwege über die angeblich ausschließlich dazu Befugten, es ist auch ein Wort der Liebe, der Gnade, der Vergebung. Der strafende Gott der Offenbarung wird hier also ersetzt durch den liebenden, vergebenden Gott des Neuen Testaments. Ich stelle mir Krauß vor als (Wieder-)Erweckten, befreit von seiner Existenzangst, erfüllt von diesem Gefühl der Gnade Gottes und seinem Aufgehobensein in ihm und beseelt vom Wunsch, auch anderen dieses Gefühl zu vermitteln, indem er ihnen davon predigt. Er hat sein Licht gefunden, seine Berufung in dieser Welt erkannt, er möchte sie besser machen, einst in einem besseren Zustand verlassen, als er sie vorgefunden hat.

 

Im vierten Teil folgt Krauß dieser Berufung und verkündet einen großen Lobpreis der Gnade und Fröhlichkeit Gottes, ganz wie im 104. Psalm, und seiner und unserer Befreiung dadurch.

 

Im fünften Teil erzählt Krauß, nun wieder ganz Zeitzeuge, wie die religiösen Führer nicht auf ihren Führungsanspruch verzichten wollen. Und er berichtet auch, wie ich mir vorstelle voller Bitterkeit, wie aus der Reformation eine Revolution wurde, die Ideen in den Hintergrund gerieten und eine enthemmte Revolte gegen „alle die da oben“ entbrannte. Der vergebliche Aufruf „ohne Gewalt“ geht unter im Kriegsgeheul. Möncheschlachten und Klosterplündern ist angesagt.

 

Der sechste Teil ist ein Instrumentalzwischenspiel, einen Perspektivwechsel vornehmend. Die große Weltbühne der Kämpfe und Auseinandersetzungen wird verlassen, und das evangelische Pfarrhaus erreicht. Der Lutherchoral „Wir glauben all an einen Gott“ erscheint, mit ihm die Hoffnung, das Gemeinsame möge sich durchsetzen.

 

„Der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“ schrieb Luther. Im siebenten Teil (einem Solo für Sopran)  wird dieser Satz zum nunmehrigen Lebensinhalt des reifen Mannes Krauß. Nächstenliebe. „Handle an deinem Nächsten so, wie Christus an dir gehandelt hat, so dass du für deinen Nächsten auch zu einer Art Christus wirst.“ Ein Trostlied.

 

Das Gemeinsame konnte sich nicht durchsetzen. Im Gegenteil! Im achten Teil berichtet Krauß, wieder dokumentarisch, vom Widerstand der Bauern, dem er ausgesetzt war, vom Widerstand der Wiedertäufer, die ihn auch ablehnten und von der Vertreibung durch die Gegenreformation. 

 

Im neunten Teil sind wir nunmehr wieder bei dem Krauß angekommen, der -wie ich mir am Anfang vorstellte - uns in der Marienkirche gegenüber steht. Wie geht man mit seinem inneren Reichtum um, wenn keiner dafür offen ist? Resignieren? Aufgeben? Sich arrangieren? Krauß weiß es nicht, aber er bittet Gott darum, die Menschen zusammenzubringen, „eins zu machen“. Darin sieht er die einzige Perspektive für ein sinnvolles, erfülltes Leben in Wohlstand und Frieden.

 

Im zehnten Teil verkündet Krauß uns sein Vermächtnis: „Alte Last versenken“. „Neuanfänge schenken“ „Mit den Gefangenen singen“  usw. Er bittet uns, unsere Freiheit, in unserer Zeit, zum Tun zu nutzen, so wie er es versucht hat sein Leben lang, zu Lebensmut, zu Nächstenliebe. Erst dann, wenn wir es schaffen, unseren Egoismus zu überwinden und uns als Teil aller Kreatur zu empfinden und dafür Verantwortung zu übernehmen, werden wir wirklich dieses wunderbare Gefühl der Freiheit schmecken und geniessen können.

 

Ihr merkt also, dass der Chor aus zwei verschiedenen Perspektiven auftritt: zum einen als Teil der „inneren Stimme“ Krauß’ (I., III., IV., IX., X. Teil), deren „Verstärkung“ sozusagen. Zum anderen als dokumentarische Personen bzw. Personengruppen der Reformationszeit (II., V., VIII. Teil). Hinzu kommt noch eine bewusste Überschneidung mit Empfindungen unserer heutigen Zeit im Eingangs- und Schlusschor. 

 

Ich freue mich sehr über eure Arbeit und danke euch schon jetzt von ganzem Herzen dafür!! Sobald ich kann, werde ich natürlich zu einer Probe kommen und gern mit euch über unser gemeinsames Stück reden.

 

Herzliche Grüße !

Euer John Rausek